Radtkes Endspiel

DDR-Pokalfinale 1990: Dynamo Dresden gegen PSV Schwerin. Das Endspiel zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung. Für Manfred Radtke war es – das Spiel seines Lebens.

Dass sich da draußen gerade die Welt veränderte, wollte Manfred Radtke erst spät wahrhaben. „Uns ging es doch gut.“ Er war Trainer bei Dynamo Schwerin, dem Verein der Volkspolizei und des Ministeriums für Staatssicherheit. Einmal fuhr er zu einer Demo, hielt sich am Rande auf, reine Neugierde. „Ein paar Leute erkannten mich, riefen: ,Manner, geh zum Training!‘“ Es war Herbst 89 und das Viertelfinale gegen Magdeburg stand an.

Radtke, damals 35, hatte seine Mannschaft wieder und wieder beschworen: „Wir kommen ins Finale!“ Mit ihm, dem Ur-Dynamo. Als Junge hatte er hier begonnen, als seine Mutter schwerkrank war und sein Vater im Gefängnis saß. Der Verein habe ihm Halt gegeben, so Radtke – und seinen Weg vorgezeichnet. „Ich war ein Systemkind.“ Jetzt wollte er etwas zurückgeben. „Ich wollte diesen Pott!“ Er wollte den Verein retten. Wochenlang konnte er kaum schlafen, nahm Faustan zur Beruhigung, blieb trotzdem wach. Er grübelte über Taktik und Aufstellungen, legte sich Horoskope zurecht, berechnete den Biorhythmus seiner Spieler. „Man kann sich nicht vorstellen, wie besessen ich war.“

Die Eintrittskarte fürs Pokalfinale

Und tatsächlich: Am 2. Juni 1990 stand Schwerin im FDGB-Pokalfinale der DDR. Zum ersten Mal überhaupt. Ein Zweitligaklub, der gerade so dem Abstieg entkommen war, gegen den achtmaligen Meister und sechsmaligen Pokalsieger Dynamo Dresden. Ein Endspiel zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung.

„Ich war überrascht, wie leer es war“, erinnert sich Reiner Calmund. „Nicht mal 6000 Zuschauer.“ Der Manager war eigens zum Pokalfinale in den Jahn-Sportpark nach Berlin gefahren, um beim letzten Spiel von Ulf Kirsten dabei zu sein. Der Stürmer wechselte danach zu Bayer Leverkusen.

„Juni 1990, da war die Hölle los in diesem Land, das noch ein Land war, aber eigentlich auch nicht“, sagt ZDF-Moderator Thomas Skulski. Er berichtete damals als Reporter, es war sein erstes Finale. Die DDR wurde gerade abgewickelt, die Wirtschaft lag am Boden, die D-Mark sollte erst noch kommen. Es gab die erste freie Volkskammerwahl, und zur deutschen Einheit wurde bereits verhandelt. Alles war wichtiger als Fußball. „Nur deshalb konnte sich Schwerin überhaupt qualifizieren. So eine Chance erhält man vielleicht einmal im Leben.“

Schwerin hatte sich fünf Tage lang in der Sportschule am Wannsee vorbereitet. Trainingsplatz, Kabine, Unterkunft: „Perfekte Bedingungen“, erinnert sich Radtke. Nur das Zimmer, in dem Otto Rehhagel untergebracht war, lehnte er ab. Aberglaube. Werder Bremen war zehn Tage vorher hier gewesen – und hatte sein Pokalfinale verloren. 2:3 gegen Kaiserslautern. Bloß kein schlechtes Omen.

Radtke (2.v.l.) rief bei der „Bild“-Zeitung an. „Die kannten schon meine große Klappe.“

Das Einzige, was ihnen am Wannsee fehlte, waren Devisen, die D-Mark. „Wir hatten nichts. Nicht mal Geld für Getränke.“ Radtke aber hatte schnell gelernt, machte PR in eigener Sache. Er rief bei der „Bild“-Zeitung an. „Die kannten schon meine große Klappe, die ich mir bei Christoph Daum und Klaus Schlappner abgeschaut hatte.“ Er nahm Kapitän Gerbert Eggert mit und fuhr in die Redaktion zum Interview. „Über unsere Pokal-Taktik lacht sogar meine Mannschaft“, hieß die Schlagzeile. Dafür gab es einen Sponsor für Getränke und – nach ein paar Telefonaten – freie Fahrt mit dem Bus von Hertha BSC zum Stadion. „Da staunten die Dresdner nicht schlecht. Unseren Ikarus parkten wir für die Heimfahrt um die Ecke. Das rote Ding sollte keiner sehen.“

Schwerin hatte sich vor dem Finale sogar umbenannt. In PSV. Polizei-Sport-Verein. „Das sollte von der Stasi ablenken“, sagt Radtke. Seine Entscheidung war es nicht. „Den alten Funktionären ging wohl die Muffe. Ich hätte Dynamo behalten. So wie Dresden.“

Die Trikots zum Finale. „Die Dinger sahen schon merkwürdig aus.“

Auf die Schnelle hatte der klamme PSV neue Trikots aufgetrieben. Mit Werbung für die Illustrierte „Neue Revue“. 20.000 Mark bekam der Verein dafür. „Die Dinger sahen schon merkwürdig aus“, erinnert sich Spielmacher Matthias Stammann. „Aber man versuchte halt irgendwie an Geld zu kommen.“

Dynamo Dresden, gerade wieder DDR-Meister geworden, war mit Kirsten, Sammer, Stübner, Pilz, Gütschow angetreten. Der klare Favorit. Der PSV Schwerin aber ging nach fünf Minuten in Führung. 1:0 durch André Kort. Stammann hatte drei Gegenspieler aussteigen lassen, von links in die Mitte geflankt. „Wer ist denn dieser Hungerhaken?“, fragte Calmund auf der Tribüne. „Mein lieber Mann, da ist aber Talent drin.“

Ein paar Monate zuvor wäre Manfred Radtke bei dieser Aussage noch nervös geworden. Sieben Spieler aus dem Kader der Saison 1989/90 waren bereits weg. Der Torjäger ging im Winter zum HSV, zwei Brüder zum VfB Lübeck. Radtke hatte die ganze Zeit gehofft, dass nicht noch mehr abhauten. „Eigentlich war ich 24 Stunden in Angst.“

Der Kader der Saison 1989/90. Bald waren sieben Spieler weg.

Im Finale am 2. Juni spielte Schwerin offensiver als erwartet, laufintensiv, hart. „Daran mussten wir uns erst gewöhnen“, sagt Dresdens Torsten Gütschow. „Wir hatten sie unterschätzt. Und so richtig im Pokalfieber waren wir auch nicht.“ Nach 18 Minuten fiel dennoch der Ausgleich, nach einem Schuss von Jörg Stübner ins lange Eck. Andreas Reinke, später deutscher Meister mit Kaiserslautern und Bremen, war chancenlos.

1:1 zur Halbzeit. „Bis jetzt haben wir gewonnen“, sagte Radtke in der Kabine. Er hatte auch zum Endspiel seine Glücksbringer angezogen. Dasselbe Unterhemd, dieselbe Unterhose, dieselben Socken. Wie immer seit der ersten Pokalrunde. „Bis zum Finale haben wir nur noch Heimspiele“, hatte er seiner Mannschaft damals versprochen. Und recht behalten. 3:1 gegen Stahl Riesa. 6:0 gegen Stahl Eisenhüttenstadt. 3:1 gegen den 1. FC Magdeburg. Immer auf der Paulshöhe, „der kleinen Anfield Road“, wie er das Stadion in Schwerin nennt.

Unbesiegt auf der Paulshöhe, „der kleinen Anfield Road.“

Bei den Fans herrschte Begeisterung. Im Verein große Sorge. „Am 5. Januar 1990 kam ich zum ersten Training nach der Winterpause und wusste nicht, wer überhaupt noch da war“, so Radtke. Dynamo sollte als Sportgemeinschaft der Sicherheitsorgane zum 30. Juni abgewickelt werden, die Spieler sollten zuvor in den Dienststellen der Volkspolizei unterkommen. „Manchmal konnten nur sieben, acht Leute trainieren, der Rest nach Feierabend.“

Funktionäre ließen sich immer seltener blicken. „Der Parteisekretär war der Erste, der weg war. Wie im Film“, erinnert sich Radtke. „Am 1. Februar saßen wir fast allein im Sporttrakt. Trainerteam, der Masseur und die Mannschaft.“ Dann gewann Dynamo im Halbfinale 1:0 gegen Lok Leipzig – „und plötzlich waren alle wieder da“.

Überschattet war das Spiel von schweren Ausschreitungen. Hooligans hatten sich in Schwerin getroffen. Der Verein war überfordert, die Volkspolizei hilflos. Szenen wie hier gab es 1990 in vielen Stadien. „Ein Potential an Unzufriedenheit, an Aggression hatte sich Bahn gebrochen“, sagt Thomas Skulski. „Das aber war eher ein gesellschaftliches als ein Problem des Fußballs.“

Halbfinale gegen Leipzig. Überschattet von schweren Ausschreitungen. Foto: Bundesarchiv

1000 Schweriner Fans hatten ihr Team im Sonderzug zum Finale nach Ostberlin begleitet. 1:1 hieß der Spielstand, als Dresdens Hans-Uwe Pilz nach einem Faustschlag vom Platz flog. Rote Karte in der 51. Minute. Jetzt oder nie, dachte Radtke. Er brachte mit Steffen Benthin einen frischen Stürmer für Steffen Baumgart. „Ich war damals 18“, sagt der heutige Bundesliga-Trainer von Paderborn, „und völlig überfordert. Ich wusste gar nicht, wo ich hinlaufen sollte.“

Benthin hatte tatsächlich noch eine Chance, das entscheidende Tor aber machte Dynamo Dresden. Eine Koproduktion Sammer/Kirsten in der 85. Minute, in ihrem letzten gemeinsamen Spiel. 2:1. „Schwerin war gut eingestellt. Trotzdem haben wir verdient gewonnen“, sagt Dresdens Torsten Gütschow. „Klar waren wir enttäuscht“, erinnert sich Matthias Stammann. „Aber auch glücklich. Wir wollten nicht untergehen – das haben wir geschafft.“ Schon von weitem hörte er seinen Trainer rufen: „Wir haben gewonnen! Wir haben gewonnen!“

Radtke, der Verrückte. Immer bei 100 Prozent. „Im Stadion stand ich mit beiden Armen nach oben da. 2:1… als wenn wir 2:1 gewonnen hätten“, sagt er noch heute. „Das war ein ganz wichtiges Signal an alle: Wir sind nicht der Verlierer, wir sind der Gewinner!“ Die Schweriner feierten auf dem Platz, in der Kabine, beim Bankett mit den Dresdnern. Eigentlich wollten sie am Abend mit dem roten Ikarus zurück nach Schwerin fahren. Radtke und ein paar andere jedoch blieben über Nacht. „Wir ahnten, dass ein solcher Moment nie wieder kommt.“

Reiner Calmund beim Interview für die Doku zum Pokalfinale 1990. Foto: Benjamin Unger

Nach dem Pokalfinale 1990 wechselte Matthias Sammer von Dynamo Dresden zum VfB Stuttgart. Ein Transfer zu Bayer Leverkusen war zuvor geplatzt, weil sich Bundeskanzler Helmut Kohl persönlich eingeschaltet hatte. „Sie können die DDR nicht einfach leerkaufen“, teilte dieser den Spitzen der Bayer AG mit, erinnert sich Calmund. Der Manager wartete ab und konnte – neben Andreas Thom vom BFC – dann doch noch Ulf Kirsten holen. „Unser bester Einkauf aller Zeiten.“

Auch in Schwerin griff Calmund zu. Matthias Stammann ging für geschätzte 350.000 Mark nach Leverkusen. Gleich nach dem Endspiel. „Als Erstes durfte ich im Möbelhaus Rösrath einkaufen. Alles wurde von Bayer bezahlt. Wie im Schlaraffenland.“

Die besten Spieler des Ostens wechselten in den Westen. „Was hätte man anders machen können in diesen Jahren des Umbruchs?“, fragt Thomas Skulski, der TV-Moderator. „DDR-Fußballer drei Jahre nicht transferieren, bis eine Regelung gefunden ist? Hätte das funktioniert? Ich glaube nicht.“

Dynamo Dresden qualifizierte sich in der folgenden Saison als Tabellenzweiter für die Bundesliga. Vier Jahre blieb der Klub erstklassig, dann wurde ihm die Lizenz verweigert – Schulden. Heute spielt Dynamo in der zweiten Liga.

1992 wurde enthüllt, dass es mindestens acht Stasi-Fälle bei Dresden gegeben hatte. Spieler, Mannschaftsarzt, Masseur. Torsten Gütschow trug sieben Jahre lang den Decknamen IMS „Schröter“. Der Staatssicherheit sollte er zur Lage in der Mannschaft berichten. Letzter Treffbericht: 16. November 1989.

Jörg Stübner (l.), „der beste Spieler, der es nicht geschafft hat“. Foto: Bundesarchiv

Jörg Stübner, Torschütze im Finale zum 1:1, war eines der größten Talente, für Calmund „der beste Spieler, der es nicht geschafft hat“. Stübner hatte in der DDR nur feste Strukturen mit klaren Abläufen gekannt – Schule, Essen, Training. Nach der Vereinigung war er mit dem Alltag überfordert, rutschte ab, Tabletten, Alkohol. Er starb 2019 im Alter von 53 Jahren.

Tragik, Umbruch, Ausverkauf. Das Endspiel 1990 war auch – die Wendezeit unterm Brennglas. Und Manfred Radtke? Der fühlte sich nach dem Finale vor allem erleichtert. „Von mir fiel eine riesige Last ab.“ Mit der Mannschaft hatte er den Verein gerettet. Kein Aus zum 30. Juni, stattdessen Europapokal der Pokalsieger im Herbst 1990. Radtke hätte eigentlich zum 1. 2. eine Stelle als Oberleutnant der Deutschen Volkspolizei antreten sollen. Er hatte gerade sein Parteibuch abgegeben, „weil eine neue Zeit begann – und weil ich mich schämte für das, was jetzt über die SED herauskam“. Beamter auf Lebenszeit. Es wäre die sichere Nummer gewesen. Aber als Trainer aufhören? „Hätte ich das gemacht, wäre alles auseinandergeflogen.“ Er sagte ab. Und hat es bis heute nicht bereut. „Dynamo ist mein Leben.“

Der größte Erfolg der Vereinsgeschichte

Nach der Vereinigung wurde aus dem PSV der FSV, und er versank in einem Fusionsstrudel. Dynamo Schwerin hingegen spielt heute in der Landesliga. Der alte Verein ist 2003 neu gegründet worden. Gleich mit dabei: Manfred Radtke. Er war bereits Trainer, Präsident, Aufsichtsratschef. Der Verein geriet mehrfach in die Schlagzeilen, weil er sich nicht klar von gewaltbereiten und rechtsradikalen Fans distanzierte, weil es regelmäßig zu Krawallen kam.

Der Verein ist aber auch – ein Stück DDR, herübergerettet in die neue Zeit. Auf der Homepage von Dynamo werden gerade virtuelle Tickets für das Europapokalspiel 1990 gegen Austria Wien verkauft. Steffen Baumgart hat sich schon gemeldet und zwei bestellt, sagt Radtke.

Von: Matthias Hufmann

Der Text ist in der FAZ erschienen.

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„Das letzte Pokalfinale in der DDR“ – auf www.ardmediathek.de