Die N1 in Conakry, der Hauptstadt Guineas. Souleymane Chérif und sein Fahrer stehen mit dem Van im Stau. Es ist Sonntag, 22.30 Uhr. Frauen und Kinder bieten Kochbananen, Fleischspieße und Mangosäfte an. Neben der Straße brennen Feuer vor den Hütten. Das Thermometer zeigt immer noch 28 Grad Celsius an.
Seit dem Morgen sind sie unterwegs. Der Fahrer ist müde. Chérif singt: „Ich sah ein schönes Fräulein im letzten Autobus. Sie hat mir so gefallen, drum gab ich ihr ’nen Kuss.“ Das Lied kennt er noch aus der DDR. „Rote Lippen soll man küssen“ – das haben sie gesungen, auf den Fahrten zu den Spielen gegen Stahl Eisenhüttenstadt, Motor Dessau oder Einheit Greifswald.
Souleymane Chérif, 74 Jahre alt, kein bisschen müde. In Guinea ist er beliebt wie kaum ein anderer. 1972 wurde er Afrikas Fußballer des Jahres. Seine Karriere hatte zehn Jahre zuvor beim SC Neubrandenburg begonnen. „Eine tolle Zeit“, sagt er. Die erfolgreichste in der Geschichte des Sportclubs. Das Ende war bitter.
Als 18-Jähriger war Chérif im Rahmen eines Freundschaftsabkommens in die DDR delegiert worden. Er sollte Berufserfahrung sammeln für den Aufbau seines jungen Heimatlandes, das 1958 unabhängig geworden war. Er studierte Bauwesen, nach einem Sprachkurs machte er ein Praktikum beim VEB Bau-Union in Neubrandenburg. „Wir installierten Heizungen in einem Hochhaus“, erinnert er sich. Er erzählt auf Deutsch, nur bei längeren Erklärungen spricht er Französisch.
Im Internat wohnte er im Block D in der Sponholzer Straße, gleich neben den Sportlern des SCN. Per Zufall wurde er im Winter 1962 entdeckt. „Wir trainierten in der Turnhalle, waren ein bisschen eher da und guckten bei den anderen zu“, sagt Peter Krabbe, später ein Mitspieler: „Wie dieser Junge mit dem Ball umgehen konnte! Das war ein Fußballer, keine Frage.“
Der Junge war zu diesem Zeitpunkt schon Jugendnationalspieler von Guinea. Seine Auswahl hatte sogar einmal 2:1 gegen die DDR gewonnen. In Neubrandenburg wussten sie das nicht, aber selbst wenn sie eine Ahnung gehabt hätten: Hier musste er Trainer Gottfried Eisler beim Probetraining überzeugen. „Die Technik war kein Problem“, sagt Chérif: „Aber die Kondition. Die Taktik. Die Disziplin.“
Noch heute steht in seinem Haus in Conakry ein Regal mit deutschen Fachbüchern. „600 Fußball-Übungen“, so lautet der Titel von einem. „Die Tipps sind wertvoll“, sagt Chérif. Seit mehr als 30 Jahren kümmert er sich um den Nachwuchs seines Landes. In der neuen Fußballakademie Yorokoguia zum Beispiel, von der er am Sonntag spätabends zurückkehrt.
In Neubrandenburg hatte Chérif hart trainieren müssen. Sprints, Ausdauerläufe, dazu das Trainingslager im Harz. „Langlauf“, erinnert sich Meinhard Uentz, damals Torjäger des SCN: „Herrlich. Wir konnten das auch nicht, aber Chérif war eine Katastrophe.“ Er hatte vorher nie Schnee gesehen. „Ich bin hingefallen, hingefallen, hingefallen“, erzählt Chérif und lacht: „Bis der Trainer mir geholfen hat.“
Auf dem Platz lief es von Anfang an rund. Der SCN spielte in der zweithöchsten Klasse, DDR-Liga, Staffel Nord. In der Rückrunde 1962/63 kletterte die Mannschaft aus dem Tabellenkeller ins Mittelfeld, mit Chérif als trickreichem Stürmer. 1,75 Meter, 75 Kilogramm. Beidfüßig, kopfballstark, schnell. Sie nannten ihn „Pelé“, großer Name, einfach „aus dem Bauch heraus“, sagt Harry Mehrwald, der linke Läufer. „Einmal tat er so, als müsste er sich den Ball zum Elfer zurechtlegen, beugte sich ein bisschen runter – und haute das Ding mit der Pike rein.“ In der Saison 1963/64 stürmte der SC Neubrandenburg von Sieg zu Sieg. Meinhard Uentz kam auf 26 Tore, viele von Chérif aufgelegt. Der Afrikaner selbst traf zwölfmal, „sogar im Flug per Hacke“, sagt Jürgen Schröder (14 Tore). „Er konnte Verteidiger verrückt machen.“
„Ich schoss mal ein Tor. Mein Gegenspieler schrie: ,Du Affe!‘“, sagt Chérif. „Ich habe noch eins gemacht, bin zu ihm und sagte: ,Schau mal, wieder ein Tor vom Affen!‘“ Er wurde öfter beleidigt. Nicht nur im Stadion („Willst `du ’ne Banane?“). „Wir hatten mal eine Panne mit dem Autobus“, erzählt Chérif: „Als man mich durch die Scheibe sah, rief jemand: ,Da sitzt der Teufel drin!‘“ Er sei dann raus und habe die Leute begrüßt: „Guten Tag.“ – „Der Teufel spricht Deutsch!“, sei die Antwort gewesen: „Es war ihnen ein bisschen peinlich.“
Beim SCN gab es diese Probleme nicht. „Er war ein super Typ“, sagt Uentz, der Kapitän. „Ein feiner Kerl“, fügt Schröder hinzu. Chérif sagte „Madame“ zu den Frauen, tanzte gern und sang auf Fahrten immer mit. „Rote Lippen . . .“ zum Beispiel. Der SCN besiegte den SC Frankfurt (Oder) 7:0. „Sonderbeifall für Chérif in der 34. Minute, als er einen Volleyschuss ins Netz knallt“, schrieb die „Freie Erde“, die SED-Bezirkszeitung aus Neubrandenburg. 4:3 im Spitzenspiel gegen TSC Berlin: „Mittelstürmer Chérif sorgte ständig für Unruhe.“ 5:1 gegen Turbine Magdeburg: „Der schwarze Chérif hatte eine starke Sonderbewachung, aber trotzdem war er stets gefährlich.“
Ein Afrikaner im DDR-Fußball. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Ministerium für Staatssicherheit an einer derart exotischen Konstellation kein Interesse hatte“, sagt Anne Drescher, die Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen in Mecklenburg-Vorpommern. Ausländer hätten als Quelle möglicher Spionageaktivitäten gegolten, berichtet auch Marita Richter von der BStU-Außenstelle in Neubrandenburg. „Dass wir bislang keine Unterlagen zu Chérif gefunden haben, deutet vielleicht darauf hin, dass er als junger Auszubildender in einem staatlichen Hilfsprogramm der DDR zunächst keine größeren Verdachtsmomente ausgelöst hatte.“ Noch sind nicht alle Dokumente ausgewertet, andere wurde nach dem Fall der Mauer von der Stasi vernichtet.
Im Juni 1964 gewann der SC Neubrandenburg 2:0 bei der BSG Motor Köpenick. Mehr als 1000 Fans waren mitgefahren. „Wir fürchten keinen Spuk noch Geister, der SCN wird Staffelmeister!“ An das Plakat mit diesem Spruch kann sich Chérif noch gut erinnern. Und tatsächlich: TSC Berlin besiegte als Zweiter am kuriosen letzten Spieltag Frankfurt 15:1, zeitgleich aber setzte sich der SCN als Tabellenführer 7:1 gegen Cottbus durch: Aufstieg. 10 000 Zuschauer feierten im Günter-Harder-Stadion.
Oberliga, höchste Spielklasse – einmalig für Neubrandenburg. Chérif wurde von jubelnden Fans in die Luft geworfen. Das Bild von der Szene schaffte es auf die Titelseite der „Freien Erde“. Nach dem Aufstieg wurde die SCN-Mannschaft bei einem Empfang der SED-Bezirksleitung geehrt. Souleymane Chérif als „Aktivist des Siebenjahrplanes“. Er hätte der erste Afrikaner in einer höchsten deutschen Spielklasse werden können, elf Jahre vor Ibrahim Sunday, der 1975 aus Ghana zu Werder Bremen in die Bundesliga wechselte. Chérif aber durfte nicht aufsteigen. In der Oberliga waren Ausländer laut Verbandsbeschluss nicht erlaubt. Der eigene Nachwuchs sollte gefördert werden, lautete eine Erklärung. Deutscher Meister konnten nur Deutsche werden, stand in einer anderen. „Ohne Kommentar. Schlimm“, sagt Meinhard Uentz. Er sei enttäuscht gewesen, sagt Souleymane Chérif: „Aber ich konnte nichts dagegen tun.“ Damit sei das Kapitel mit „Pelé“ leider zu Ende gegangen, sagt Harry Mehrwald.
Ohne Chérif stieg Neubrandenburg sofort wieder ab – und nie wieder auf. Er spielte noch ein halbes Jahr für Neustrelitz und kehrte dann nach Guinea zurück, wurde in die Nationalelf berufen. In seinem Gepäck: das Bild mit der Mannschaft der Saison 1963/64. Es steht noch heute in seinem Wohnzimmer. „In Neubrandenburg hat alles begonnen“, sagt Chérif, bevor er die Namen durchgeht: „Eisler, Uentz, Boldt, Chérif, Steinfurth, Hamann, Kustak, Schröder, Strahl . . .“
In Guinea wurde er zehnmal Meister mit dem FC Hafia. Mit der Nationalmannschaft kämpfte er sich zwei Jahre lang durch die Qualifikation und reiste als erster Sportler des Landes zu Olympia, Mexiko 1968. Das DDR-Fernsehen interviewte ihn, als er im Olympischen Dorf nach einem deutschen Arzt fragte. „Herr Chérif, erinnern Sie sich an Ihre Zeit in Neubrandenburg?“ – „O ja, die war sehr schön.“
1970 nahm er mit dem Nationalteam an der Endrunde des Afrika-Cups in Sudan teil. Zwei Jahre später gewann er mit Hafia die afrikanische Klubmeisterschaft. 1972 wurde Chérif Afrikas Fußballer des Jahres. Gewählt von Journalisten, ausgezeichnet von der Fachzeitschrift „France Football“. „Wir haben das aus der Fußballwoche erfahren“, sagt Meinhard Uentz. „Dass Chérif eine solche Karriere macht, war uns allen klar.“ „Ballon d’or“ (Goldener Ball) wird er seither in Guinea genannt. Hertha BSC Berlin und der 1. FC Köln wollten ihn verpflichten, die halbe französische Liga. Chérif aber blieb in seiner Heimat. „Ich war ein Kind der Revolution, wollte helfen, mein Land aufzubauen.“
Das größte Fest fand 1977 in Conakry statt: das Klubfinale Afrikas. FC Hafia gegen Accra Hearts of Oak aus Ghana. „Die Leute kamen um 4 Uhr in der Früh und blieben bis 17 Uhr. Es war phantastisch.“ Er steht auf dem Rasen des alten Nationalstadions und zeigt auf die Tribünen. Mehr als 30 000 Fans sahen damals das 3:2. Mit einem langen Pass leitete Chérif das entscheidende Tor ein. Dreimal gewann er den Cup der Landesmeister, zwölf Jahre lang war er Nationalspieler. Als er Ende der siebziger Jahre aufhörte, wurde er mit der Nationalmedaille des Landes geehrt.
In Neubrandenburg haben sie Chérifs Weg, so gut es geht, verfolgt. Dass er mit seiner Frau in Conakry lebt und acht Kinder hat. Dass er Trainer bei Horoya AC war, dem zweiten großen Klub des Landes. Dass er die U 16 Guineas zur WM in China führte. Dass der Verband noch heute auf seine Dienste setzt und er mit 74 als Technischer Direktor arbeitet.
Chérif hat sich immer wieder in Neubrandenburg gemeldet, so 2014, als er zum 50. Jahrestag des Oberliga-Aufstiegs gratulierte und eine schöne Feier wünschte. „Man hat ihn noch vor Augen“, sagt Jürgen Schröder. „Und das wird auch so bleiben.“ Die ehemaligen Mitspieler – Uentz, Krabbe, Mehrwald, Schröder – haben sich in ihrer alten Kabine in Neubrandenburg getroffen, haben sich die Alben von früher angeschaut und Fragen zu Chérif beantwortet. Sie haben einen Brief und ein Geschenk für ihn nach Guinea mitgegeben – und ihre Grüße mit der Handy-Kamera aufgenommen.
Conakry, Dienstag, 27. November 2018. Chérif sitzt mit seiner Frau und einem Bruder vor dem Haus. Es ist kurz vor 17 Uhr. Er kommt gerade von einer Sitzung des Fußballverbandes und muss eigentlich gleich wieder los. Der deutsche Botschafter möchte ihn kennenlernen. Aber für das Video aus Neubrandenburg nimmt er sich Zeit. Er schaut genau hin. „Harry Mehrwald.“ – „Das ist Schröder.“ Er strahlt. Öffnet den Brief und liest vor: „Wir sind auch heute noch stolz, dass wir damals mit Dir in einer Mannschaft gespielt haben.“
Er packt das Geschenk aus. Das Bild vom Aufstieg mit dem SCN, das Foto von der Titelseite. „Das, was man erreicht hat – das ist das, was wirklich zählt“, sagt Chérif. „Wie in Neubrandenburg: Die Leute haben mich in die Luft geworfen. Das ist unglaublich, unfassbar . . .“
Er schaut auf das Geschenk. Und weint.
„Danke an Gott. Danke an Neubrandenburg.“
Von: Matthias Hufmann