Am 14. Dezember 1995 sind Gregor Gysi und Sie zum Hotel „Mueßer Bucht“ in Schwerin gefahren. Dort warteten Harald Ringstorff und Rosemarie Wilcken von der SPD.
Helmut Holter: Niemand sollte von dem Treffen wissen. Deshalb das Hotel am Rande der Stadt. Wir saßen nicht im Restaurant, sondern in einem eigens hergerichteten Zimmer. Nur Tisch und Stühle, Betten und Couch waren ausgeräumt.
Wieso dieses Treffen in ungewohnter Runde?
Gregor Gysi legte Wert darauf, auch Harald Ringstorff hatte Interesse. Beim Treffen ging es vor allem darum, Rosemarie Wilcken, SPD-Landesvize und Bürgermeisterin von Wismar, zu überzeugen. Ihr wollten wir zeigen, dass wir vernünftige Menschen und nicht von gestern sind, dass man mit uns gemeinsam Politik machen konnte.
Haben Sie Ringstorffs Stellvertreterin überzeugt?
Es ging ums Abklopfen, ums Kennenlernen. Immerhin zählte Rosemarie Wilcken zu jenen SPD-Mitgliedern, die sich eine Zusammenarbeit mit uns, der SED-Nachfolgepartei, nicht vorstellen konnten. Und das waren viele.
(Nach dem Treffen warteten Journalisten im Foyer. „Es hatte sich rumgeschwiegen“, so Holter. Rosemarie Wilcken sagte den Reportern, dass es ein aufschlussreiches Gespräch gewesen wäre. „Mehr konnten wir nicht erwarten“, so Holter. Das Hamburger Abendblatt schrieb am nächsten Tag: „Ringstorff und Gysi schließen Koalition aus.“ Eine Nebelkerze, wie sich später herausstellte.)
War dieses Treffen ein Vorbote für Rot-Rot knapp drei Jahre später?
Es war ein Türöffner, sicher. Weitere Treffen folgten. Gysi besuchte Ringstorff zu Hause in Weiße Krug. Wir saßen auch mal nach einer Parteiveranstaltung zusammen. Abends irgendwo in einer Dorfgaststätte, die der Wirt bereits geschlossen hatte.
(Holter betonte 1996 in Interviews, dass es Übereinstimmungen mit der SPD nicht nur in der Kultur- und Bildungspolitik geben würde. Er tauschte sich mit dem Warener Kreis aus, den Parteilinken innerhalb der SPD. Vor allem mit Rudi Borchert, der mit seiner Partei über den Ausstieg aus der großen Koalition diskutieren wollte.)
Welches Thema verband sie noch – außer Kultur- und Bildungspolitik?
Ringstorff war damals Wirtschaftsminister, ich machte Wirtschaftspolitik. Wir saßen öfter zusammen, um über Werften, Arbeit, Konjunktur zu sprechen. So lernten wir uns besser kennen.
Das reichte, um sich vertrauen zu können?
Es ging bei den Treffen auch immer um Rot-Rot und Stimmungen in unseren Parteien. Man kann sich das wie ein Planspiel vorstellen. Wer würde sich wie entscheiden? Zwei Fraktionen. Thema für Thema. Kopf für Kopf. Wir haben das immer durchgespielt. Für Ringstorff waren Mehrheiten das Maß der Dinge.
(Auf dem ersten Parteitag 1990 in Leipzig hatte die Ost-SPD beschlossen, keine SED-Mitglieder aufzunehmen. 1994 folgte die Dresdner Erklärung der Bundes-SPD. In dem Papier hieß es: „Die PDS ist ein politischer Gegner. Eine Zusammenarbeit kommt nicht in Frage.“)
Welche Rolle spielte die Wahl Oskar Lafontaines 1995 zum SPD-Bundesvorsitzenden?
Auf dem Parteitag hat Lafontaine eine kämpferische Rede gehalten, eine linke Rede. Das war eine klare Ansage an die SPD – und eine deutliche Abkehr von der Dresdner Erklärung von 1994. Zuvor war jede Zusammenarbeit mit uns ausgeschlossen. Das galt jetzt nicht mehr. Ich saß vor dem Fernseher und dachte: Vielleicht ist die Zeit jetzt reif.
(Anfang der 90er ließ man die PDS nicht rein in die Gesellschaft, sagt Holter. Er erinnert sich an den Empfang einer Bank in Schwerin. „Wir waren im Landtag, nur deshalb wurden wir eingeladen.“ Gesprochen hätte niemand mit ihnen. „Wir standen da wie die Mauerblümchen.“)
Rein in die Gesellschaft. Wollte Ihre Partei das überhaupt?
Teile von uns ganz bestimmt nicht.
Viele Linke lehnten die Bundesrepublik, das gesamte politische System ab. Und Sie kamen gleich mit Regierungsbeteiligung. Wie groß waren die Widerstände?
Enorm. Auf dem Parteitag 1995 in Stralsund sprach ich über eine inhaltliche Annäherung an die SPD. Was für ein Aufschrei! Der Parteitag wurde unterbrochen, der Vorstand zog sich ohne mich zurück, um zu beraten. Es gab Genossen, die wollten mich als Landesvorsitzenden absetzen. Aber: Am Ende versuchten wir den neuen Kurs, mit deutlichen Forderungen an ein linkes Profil.
Reden hieß Ihre Therapie?
Nach außen mussten wir zeigen, dass wir keine Schmuddelkinder sind. Das war im Bund vor allem Gregor Gysis und Lothar Biskys Job. Intern mussten wir überzeugen, dass es auch hierum ging: Ums Ankommen in der Bundesrepublik. Das war ein weiter Weg. Und ja: Reden half.
(Werftenkrise im April 1996. Der Bremer Vulkan hatte 843 Millionen D-Mark für die ostdeutschen Werften in der Hansestadt versickern lassen. MV-Finanzministerin Bärbel Kleedehn (CDU) verhandelte mit Bundesfinanzminister Theo Waigel – ohne Abstimmung mit Wirtschaftsminister Ringstorff. Die Folge: eine handfeste Regierungskrise. Ringstorff forderte Kleedehns Rücktritt und kreidete Ministerpräsident Berndt Seite (CDU) den Alleingang an. Am Ende wechselte Kleedehn das Ressort, Ringstorff verzichtete auf seinen Posten und übernahm den Fraktionsvorsitz.)
1996 haben Sie der SPD eine Minderheitsregierung empfohlen.
Eine eigene Regierungsbeteiligung: Soweit waren wir noch nicht. Deshalb hatten wir der SPD tatsächlich eine Minderheitsregierung nach dem Magdeburger Modell vorgeschlagen – falls es mit der CDU nicht mehr klappen sollte. Die Sozialdemokraten lehnten aber ab.
Kamen Sie sich nicht manchmal wie ein Erfüllungsgehilfe Ringstorffs vor?
Uns wurde vorgeworfen, dass wir die Steigbügelhalter der SPD wären. Das schon. Auch mir persönlich wurde vorgehalten, dass ich doch nur Minister werden wollte. Ringstorff selbst spielte keine Rolle.
„Ringstorff ist ein politischer Hasardeur“, schrieb die Süddeutsche Zeitung in einem Kommentar. Er handele wie ein gekränkter und trotziger Mann, der, koste es was es wolle, Ministerpräsident werden möchte.
Ringstorff hatte hoch gepokert. Rot-Rot war ein Tabubruch. So etwas konnte man nicht über Nacht verkünden. Es gab Skepsis und Ablehnung in beiden Lagern und in der Gesellschaft. Deshalb mussten wir Schritt für Schritt gehen. Genau wie die SPD. Ringstorff wusste das und hatte einen Plan.
Weil die Chemie in der großen Koalition nicht mehr stimmte?
Allein CDU-Fraktionschef Eckhardt Rehberg und Harald Ringstorff: Das ging gar nicht. Wie Feuer und Wasser. Das darf man nicht vergessen. Ringstorff vertraute ihm nicht. Mir schon. Er ahnte, dass er mit der PDS besser fahren würde.
(Auf einem Parteitag in Sternberg im Mai 1997 steckte die Landes-SPD ihre Marschroute für die Landtagswahlen ab. Ringstorff wurde ohne Gegenkandidaten und mit 70 von 92 Stimmen erneut zum Landesvorsitzenden gewählt. Seine bisherige Stellvertreterin, Rosemarie Wilcken, die sich gegen den rot-roten Kurs ausgesprochen hatte, trat nicht mehr an.)
Nach den Wahlen im September 1998 wurde erst sondiert, dann verhandelt. Und im Mittelpunkt: Sie, die PDS. Spürte man den Druck?
Wir waren aufgeregt, wollten es nicht gleich in den Sand setzen. Wir verhandelten auf Augenhöhe, es fehlte uns aber an Erfahrung, zum Beispiel, wie man einen Regierungshaushalt aufstellte. Hinzu kam: Alles was vereinbart wurde, musste unmittelbar danach noch durch unsere Gremien. Transparenz war uns wichtig, auch um die Skeptiker zu überzeugen. Die SPD war manchmal irritiert, wenn wir nachverhandeln mussten.
(SPD 34,3 Prozent, CDU 30,2 Prozent, PDS 24,4 Prozent. So lautete das Ergebnis der Landtagswahl 1998. Die Sozialdemokraten konnten zulegen (plus 4,8 Prozentpunkte) und wurden erstmals stärkste Partei, die Christdemokraten verloren (minus 7,5 Prozentpunkte), die PDS gewann 1,7 Prozentpunkte hinzu. Bei der Wahl Ringstorffs zum Ministerpräsidenten versagten ihm acht Abgeordnete aus dem eigenen Lager die Stimme.)
Ihre Partei erhielt drei Ministerien: Arbeit/ Bau, Soziales und Umwelt. Hat sich die PDS unter Wert verkauft?
Wir hatten andere Vorstellungen, konnten dennoch zufrieden sein. Diese Koalition war ja ein Wert an sich. Das Umweltressort wollten wir und bekamen es. Sozialministerium war auch klar, dazu Arbeit/Bau von mir. Bildung? Keine Chance. Finanzen? Keine Chance. Justiz? Ebenso wenig. Das Innenministerium hatten wir gar nicht erst angestrebt, wegen der Zuständigkeit für Polizei und Verfassungsschutz. Und die Wirtschaft hätte Rabatz gemacht, wenn wir das Ressort übernommen hätten. So kam die Verteilung zustande.
Rot-Rot brachte Mecklenburg-Vorpommern in die Schlagzeilen.
Journalisten aus ganz Deutschland kamen nach Schwerin. Ich traf mich mit einem Reporter aus Japan, selbst die New York Times schickte eine Korrespondentin. Es war ein gewaltiges Echo. Politiker diskutierten, Politikwissenschaftler schalteten sich ein, Historiker meldeten sich zu Wort.
Kritiker sprachen von einem „Sündenfall“. Welcher Vorwurf traf Sie am härtesten?
Getroffen? Ich weiß nicht. „Betonkopf“ haben manche gesagt. Weil ich mal Produktionsleiter im VEB Beton Nord war, dazu meine Karriere in der SED. Das war nun mal so. Dazu stehe ich.
Wie lief der Regierungsalltag?
Erst gab es eine spürbare Ablehnung in der Verwaltung, in den einzelnen Ministerien. Nach einem Jahr aber hatte sich das gelegt. Da merkten die Mitarbeiter: Mit denen kann man ja arbeiten. Normalität setzte ein.
Woran merkten denn die Wähler, dass jetzt Rot-Rot regierte?
Zum Beispiel am Einstieg in den öffentlich geförderten Beschäftigungssektor und an einer modernen Umweltpolitik. Auch kümmerten wir uns um Vorpommern. Damals schon. Wir wollten entwickeln, nicht nur verwalten. Gerade beim Thema Arbeit. Wir sprachen mit den Menschen vor Ort. Denn Vertrauen gewinnen: Das musste die PDS immer noch.
Bei welchen Themen hakte es?
Nur ein Beispiel. Das Kabinett fuhr mal gemeinsam zu einer Veranstaltung nach Malmö. Auf der Fähre musste Harald Ringstorff in der Schweriner Volkszeitung lesen, was unsere Ministerin Marianne Linke zum Thema Kifög plante. Abgesprochen war nichts. Das konnte man mit Ringstorff nicht machen. Linke wurde noch an Bord herbeizitiert.
(Nach der Landtagswahl 2002 wurde Rot-Rot fortgesetzt. Die SPD hatte mit 40,6 Prozent deutlich gewonnen, die PDS mit 16,4 Prozent deutlich verloren. Die CDU legte mit 31,4 Prozent leicht zu. „Die PDS in die Regierungsverantwortung genommen zu haben“, sagte Ringstorff später, „das war ein Schritt zu einer gewissen Aussöhnung.“ 2006 folgte trotzdem die große Koalition – obwohl Rot-Rot mit 36 von 71 Mandaten weiter über eine knappe Mehrheit im Landtag verfügt hätte. Das Aus für die PDS teilte Ringstorff dem Landesvorsitzenden Peter Ritter mit. Bei Helmut Holter meldete er sich nicht.)
Rot-Rot. Acht Jahre in Mecklenburg-Vorpommern. Nie im Bund, auch nicht in einem Dreierbündnis. Warum eigentlich nicht, Herr Holter?
1997 gab es den Bundesparteitag der PDS in Schwerin. „In Mecklenburg-Vorpommern machen wir unser Gesellenstück und das Meisterstück in Berlin“, sagte ich in meiner Rede. Es kam anders. Rot-Rot-Grün: Diese Chance wurde nie beim Schopfe gepackt. Leider. Für meine Partei hat der Parteivorsitzende Bernd Riexinger gerade erst wieder bestätigt, dass die Diskussion über eine Regierungsbeteiligung immer noch nicht abgeschlossen sei. Die CDU stellt sich gerade neu auf. Und der SPD täte Ringstorffs Mut sicherlich gut.
Interview: Matthias Hufmann
Veröffentlicht im November 2018
Zur Person
Helmut Holter war von 1998 bis 2006 Minister für Arbeit und Bau in der rot-roten Landesregierung und von 1991 bis 2001 Vorsitzender der PDS in Mecklenburg-Vorpommern. 2011 und 2016 führte er Die Linke (vormals PDS) in den Landtagswahlkampf. 2009 wurde er Fraktionsvorsitzender, 2017 wechselte er nach Thüringen und wurde Bildungsminister.
Links
„Wir haben 1994 bereits erste Gespräche mit der PDS geführt, haben der PDS auch einige Bedingungen gestellt. Damals war die Zeit noch nicht so weit.“ Interview mit Harald Ringstorff am 22.11.1998 im Deutschlandfunk
Das Kabinett Ringstorff I amtierte vom 3. November 1998 bis zum 6. November 2002. Hier die Liste der Kabinettsmitglieder