Eine Frau will Meer

Kirsten Dubs hat sich einen Traum erfüllt: die Bootswerft-Freest.

Träume können sehr hartnäckig sein. Der von Kirsten Dubs währte 16 Jahre. Dann wurde er wahr – und sie Werftbesitzerin.

Ihren Job hatte sie gerade geschmissen, der nächste konnte warten. Kirsten Dubs reiste erst mal für sieben Monate durch die USA, nach Mexiko und Antigua. Zeit zum Nachdenken. Das war 1991. In dieser Zeit schrieb sie ein Gedicht. Es heißt „Der Lebenstraum“. Sie kramt es manchmal noch hervor. „Träume nicht nur deinen Traum, sondern wag’s“, heißt es darin. „So versuche ich, danach zu streben, meine Träume zu erleben.“

Die heute 49-Jährige hat sich daran gehalten. Sie restauriert alte Holzboote, baut Schiffe und hat sich einen Traum erfüllt: die Bootswerft-Freest, gelegen an der Mündung des Peenestroms in Vorpommern. 13 Mitarbeiter, vom angestellten Gesellen bis zum Helfer auf Stundenbasis. Ihr eigener Betrieb, den sie erfinderisch am Leben hält.

Seit 2007 gehört ihr das Werftgelände. Die Halle darauf wurde irgendwann nach dem Zweiten Weltkrieg in Wolgast ab- und hier wieder aufgebaut. 42 Meter lang, 14 Meter breit, komplett aus Holz. Darin stehen immer sechs, sieben Boote, fast alle sind älter als 50 Jahre. So wie der Seefahrtkreuzer „Storch“. 17,5 Meter lang, Baujahr 1936. Der Rumpf muss gemacht werden, das Deck, der Innenausbau. Ein Langzeitprojekt. Andere Aufträge sind kleiner. Rechnungen der Werft fallen selten höher aus als 20.000 bis 30.000 Euro. Im Hafen vor der Halle ist Platz für 30 Boote; wer hier anlegt, zahlt zwischen 600 und 1600 Euro pro Jahr. Krangebühren fürs Winterlager kosten extra.

Reichen all diese Einnahmequellen? „Es ist nicht einfach, aber wir kommen klar“, antwortet Dubs. Es gibt 40, vielleicht 50 Werften wie diese, schätzt der Deutsche Boots- und Schiffbauer-Verband. Vergleichbar in Größe, Mitarbeiterzahl, Kapazität. Ihr Kerngeschäft sind Reparatur, Instandsetzung, Bootsbau, es werden Liegeplätze verpachtet, man kann Schiffe chartern.

Oft kommen die kleinen Werften gerade so über die Runden. Vor allem im Osten ist die Lage schwierig. Geringere Wirtschaftskraft bedeutet hier auch: Kunden bezahlen für die gleiche Arbeit deutlich weniger als anderswo. „In Mecklenburg-Vorpommern sind es gerade mal 40 Euro pro Stunde“, sagt der Verbandsgeschäftsführer Claus-Ehlert Meyer. Bundesweiter Schnitt seien 52 Euro, am Bodensee sogar 65 Euro.

Kirsten Dubs ahnte vor zehn Jahren schon, dass Handwerk und Hafen allein nicht reichen würden, sie hatte deshalb ein Konzept erstellt: die „offene Werft“. Das klassische Geschäft wird mithilfe der Kunden erweitert, so die Idee. Bei ihr kann man heute Eigner treffen, die etwas dazulernen oder einfach nur sparen wollen und ihr Boot unter Anleitung selbst reparieren. Segler, die 750 Euro in einen Wochenkurs zum Mastbau investieren. Manager, Ärzte, Banker, die ihr Mobiltelefon ausschalten und für ein paar Tage schleifen, fräsen, anpacken. Oder Väter, die mit ihren Söhnen übers Wochenende bleiben und Skateboards bauen. „Auch dabei können wir helfen“, sagt Dubs. Die Übernachtung auf der Werft kostet 30 bis 50 Euro pro Person, in der neuen Gemeinschaftsunterkunft ist es knapp die Hälfte.

„Der Trend ist, Kunden stärker einzubinden“, sagt Klaus Müller vom Volkswirtschaftlichen Institut für Mittelstand und Handwerk an der Universität Göttingen. „Das kann nicht jeder.“ Es sei eine Frage der Mentalität, der Einstellung – und eine Frage von Kreativität. „Handwerksbetriebe stehen in Konkurrenz zur Industrie, sie müssen sich abheben.“

Tausche Arbeitsweste gegen Bluse und Rock

In der Bootswerft von Kirsten Dubs zeigen Künstler ihre Werke. Zu Pfingsten kommen Gäste zur Fotoausstellung. Und nachdem ein Dozent den Ort im Urlaub entdeckt hat, reisen Studenten der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig nach Freest, um dort mit Klangkunst zu experimentieren. Sie trommeln auf Bootsrümpfen, bringen Stangen im Hafen zum Schwingen, drehen Motoren hoch, um das Wummern aufzunehmen. Einmal ist es so laut, dass die Halle vibriert. „Auf der Werft wird dabei einfach weitergearbeitet“, sagt Ulrich Eller. „Wie selbstverständlich, dass wir da sind.“ Für Dubs gehören solche Experimente auch zur offenen Werft.

Im Winter trägt sie Rollkragenpullover, eine dicke Arbeitsweste, Thermohose. „Früher hatte ich andere Sachen an“, sagt sie. „Schön mit Bluse und Rock ins Büro. Kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen.“ Ende der Achtzigerjahre war sie als Schifffahrtskauffrau in Bremen angestellt. Abteilung Fernost, Im- und Export. Sie kündigte 1991 und ging erst einmal auf Reisen. Als das Ersparte aufgebraucht war, kehrte sie an die Weser zurück und wurde Container-Disponentin. Routen planen, Waren verschicken, Angebote einholen. „Das war aber auch nicht das Richtige.“

Sie wollte ins Handwerk, dorthin, wo immer neue Aufgaben warten, „wo es bestimmt nicht öde wird“. In den Bootsbau. Sie holte das Abitur an der Abendschule nach, „um vielleicht noch studieren zu können“, kassierte ein paar Absagen auf ihre Bewerbungen, „eine Ausrede war, dass man keine Toilette für Frauen hätte“, und lernte schließlich überbetrieblich. Bremer Bootsbau Vegesack, Abschlussjahrgang 1994.

Dubs fuhr danach als Schiffszimmerin und Matrosin auf der „Star Clipper“ durch die Karibik. Reiste mit dem Motorrad – mal allein, mal mit Freunden – in die Schweiz, nach Italien, Frankreich, Irland, Polen. Sie suchte sich Praktikumsplätze in Deutschland und sammelte weitere Erfahrungen im Holzbootbau. 1995 bis 1997 arbeitete sie als Anleiterin in einem Ausbildungsprojekt auf der Fridtjof-Nansen-Werft in Wolgast. Bis 1998 baute sie mit Jugendlichen mehrere Kleinboote in der Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft in Bad Oldesloe – und schloss im April 1999 ihren Meisterkurs an der Handwerkskammer Lübeck ab.

Ein Jahr später ging sie wieder nach Vorpommern. Und wieder nach Wolgast, wo sie für das Berufsfortbildungswerk zwei Umschulungskurse für Bootsbauer leitete. 2005 entdeckte sie schließlich eine Anzeige im Amtsblatt: „Werft zu verkaufen“. Die alte Jarling Bootswerft von 1889. Jahrzehntelang waren hier Fischkutter, Freizeit- und Zeesboote gebaut worden. 250 allein bis Anfang der Dreißigerjahre. Zu DDR-Zeiten wurde vor allem instandgesetzt und repariert. Danach lag das Gelände lange Zeit brach.

„Das ist die Gelegenheit“, dachte sich Dubs. Sie gab ein Angebot ab, fast 300.000 Euro, erhielt vom Verkäufer die vorläufige Zusage und eine Frist, weil alles doch ein bisschen plötzlich kam. Sie sollte innerhalb von sechs Monaten das Geld auftreiben. Daraus wurden anderthalb Jahre. Was sie zu bieten hatte? 10.000 Euro aus einer Lebensversicherung und den Teilerlös aus einem Hausverkauf. „Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.“

Kirsten Dubs reduzierte erst die Stundenzahl in ihrem Job in Wolgast, kündigte 2006 ganz. Sie meldete ein Gewerbe für Bootsbau, Reparaturen, Wartung, Charter, Schulungen an und mietete sich in die verlassene Werft ein, nachdem sie den ersten Auftrag erhalten hatte. In jene Werft also, in der sie eigentlich längst Eigentümerin sein wollte. Sie druckte Karten („Bootswerft-Freest in Gründung“) und fuhr mit geliehenem Ausstellungsstück, einem Holzboot, zur ersten Messe, der „Boatfit“ in Bremen. „Eine Frau, die eine alte Werft kaufen will: Das hat für Aufsehen gesorgt.“

Ihr blieben drei Monate, um den Eigenanteil für den Kredit aufzubringen. Sie versuchte alles, geriet an einen möglichen Investor, der wieder absprang, bat Mutter, Tante, Freunde, Bekannte um Geld. Und schaffte es tatsächlich. Fünf von ihnen stiegen mit Privatdarlehen ein. 50.000 Euro kamen so zusammen.

Dubs hatte Termine bei Banken, der IHK, der Handwerkskammer, bei Architekten, Gutachtern und Ämtern. Sie erfuhr vom Existenzgründerwettbewerb „Einfach anfangen“, bewarb sich, landete in der ersten Runde auf Platz 29 und konnte trotzdem weitermachen. Dubs ließ nicht locker, feilte am Konzept, ging zu Seminaren und Weiterbildungen in Schwerin, Rostock und Neubrandenburg. Sie erreichte die Endrunde, durfte ihr Projekt im Schloss Ulrichshusen vorstellen – und überzeugte die Jury. Platz 2. Das Konzept hieß: offene Werft. Schon damals.

Am 30. April 2007 hat Kirsten Dubs die Werft offiziell übernommen. Ihre Bank gewährte einen Kredit in Höhe von 545.000 Euro, abgesichert von der Bürgschaftsbank. Die eine Hälfte war für den Kaufpreis eingeplant, die andere für Reparatur und Investitionen. Zum Beispiel in eine neue Elektroinstallation, damit das Licht in der alten Halle nicht länger flackerte, wenn die Bandsäge von 1878 angeworfen wurde.

Heute ist die 49-Jährige laut Verband eine von etwa zehn selbstständigen Bootsbaumeisterinnen in Deutschland. 2006 fing sie mit einem Mitarbeiter an, inzwischen beschäftigt sie 13. Zwei Gesellen, fünf Lehrlinge, einen Jugendlichen im Freiwilligen Sozialen Jahr, einen Umschüler, einen ehemaligen Langzeitarbeitslosen und natürlich die „Silver Workers“, wie Dubs sie nennt, drei Rentner, die sich je nach Bedarf unter anderem um Elektrik, Bootstechnik und die Steganlage im Hafen kümmern. „Es gibt nicht mehr viele Werften, die den konventionellen Bootsbau beherrschen wie jene in Freest“, sagt der Verbandsmann Meyer. „Alte Boote, traditionelle Techniken wie das Kalfatern – und Eigner dürfen mithelfen. Kirsten Dubs besetzt eine Nische.“

Das ganz Jahr über haben sie hier zu tun. In dieser Saison soll zum Beispiel die „Storch“ fertig und der „Daysailer 650“ getestet werden. Ein eigens entwickeltes Boot aus Sperrholz, 6,5 Meter lang, geeignet für vier Personen. Der Bausatz dafür soll bald zu kaufen sein. Do it yourself. Oder mit der Hilfe aus Freest. Je nach Kundenwunsch.Dubs hat Pläne, Ideen, nur nicht so viel Zeit, wie sie sich wünscht. Auch nicht für den 17-jährigen Sohn und nicht für ihren Partner, der Fischer in siebter Generation ist. Als Entschädigung aber gibt es besondere Momente. Bei einem Konzert zum Beispiel standen zwei der Kunststudenten aus Braunschweig am Strand im flachen Wasser. Sie hatten Blechbehälter aus der Werft aufgestellt, eine lange Klaviersaite gespannt und mit Geigenbögen gespielt. Es klang wie Walgesang.

Von: Matthias Hufmann

Aus: brand eins Heft 2017/Neue Arbeit