Der Blues des Boxers

Der Blues des Boxers
Dirk Schäfer stand kurz davor, sich für die WM 1982 in München zu qualifizieren. Foto: Archiv

Dirk Schäfer war einer der besten Kämpfer der DDR – bis die Staatssicherheit ihm das Leben zur Hölle machte.

Auf einer Länderkampftour der DDR-Auswahl 1982 in die Vereinigten Staaten und nach Kanada sollte Fritz Sdunek einen jungen Boxer fragen, ob man nicht zusammen abhauen wolle. „Nein“, war die Antwort. „Ich lasse doch meine Eltern nicht im Stich!“ Test bestanden. Keine besonderen Vorkommnisse, meldete Sdunek nach der Rückkehr. „So liefen die Überprüfungen damals ab.“

Mit Überprüfungen meinte er: Stasi-Überprüfungen. Sdunek, der spätere Weltmeister-Macher und Coach der Klitschkos, war in den 70er und 80er Jahren Klubtrainer in Schwerin und Assistent des DDR-Auswahltrainers. Zur Staatssicherheit hatte er ein entspanntes Verhältnis. Die Offiziere seien „recht lockere Typen“ gewesen, man habe sich stets im Plauderton unterhalten, heißt es in seiner Autobiographie „Durchgeboxt“. Nach eigenen Angaben sollte er über Auffälligkeiten in Trainingslagern und bei Wettkämpfen berichten. Die Stasi habe aber nie versucht, etwas aus ihm herauszupressen.

Dass die Karriere des jungen Boxers trotzdem zerstört worden ist, wird in Sduneks Autobiographie nicht erwähnt. Ebenso wenig, dass der Test auf der Länderkampfreise nur ein kleiner Teil eines detaillierten Plans war. Beides passt auch nicht zur Legende von der harmlosen Stasi.

Der junge Boxer war Dirk Schäfer. Zweimaliger DDR-Meister im Bantamgewicht, Dritter der Junioren-EM, eines der größten Talente des Landes. Er wurde noch 1982 aus seinem Klub verbannt und „in Unehren“ ausdelegiert. Das zeigen Stasi-Unterlagen, die unserer Redaktion vorliegen. Mindestens fünf Inoffizielle Mitarbeiter (IMs) und drei weitere Spitzel der Staatssicherheit hatten ihn systematisch überwacht. Sie sollten ermitteln, mit wem er sich traf. Wohin er ging. Worüber er sprach. Seine Pakete wurden von der Stasi geöffnet, seine Briefe gelesen. Es gab Ermittlungen im Ausbildungsbetrieb VEB Denkmalpflege Schwerin. IMs sollten erreichen, dass die Eltern ihrem Sohn zuredeten.

„Gesellschaftliche Entwicklung der DDR negierend“

Schäfer war damals 20 Jahre alt. Die Stasi warf ihm vor, dass er „aufgrund seines Charakters und seiner Mentalität im Trainingskollektiv nicht akzeptiert“ wurde. Inoffizielle Mitarbeiter beobachteten, dass er Kontakte zu Kirchenkreisen in Schwerin unterhielt und sich mit „negativen und asozialen Personen“ umgab. Wiederholt wurde festgestellt, dass er „provokatorisch und die gesellschaftliche Entwicklung in der DDR negierend“ auftrat.

Dirk Schäfer sagt heute, dass er von der Überwachung nichts mitbekommen habe. Er war als Schüler von Ludwigslust ins Sportinternat nach Schwerin gewechselt, machte seinen Schulabschluss, trainierte täglich, ging aber auch gern aus. Er liebte Musik. „Ich war jung und wollte was erleben.“ Im Jugendklub einer Kirche hätte er Schmalzstullen gegessen, Tischtennis gespielt, Lieder gesungen. „Das waren für mich einfach nur junge Leute.“

Als DDR-Meister von 1981 war Schäfer auf bestem Wege, sich für die Weltmeisterschaft 1982 in München zu qualifizieren. Die Stasi stellte das vor ein Problem. Sollte man tatsächlich jemanden mitnehmen, der laut Akten sagte: „In der DDR kann auch nicht jeder werden, was er gerne möchte“? Von dem man nicht wusste, ob er nicht – ausgerechnet – im Westen bleiben würde?

Zu den Spitzeln zählten vor allem Leute aus Schäfers Klub, Traktor Schwerin. In den 70er und 80er Jahren holten Traktor-Boxer 20 Medaillen bei Olympia, bei Welt- und Europameisterschaften. Der Erfolg rief die Staatssicherheit frühzeitig auf den Plan. „Anhand der Akten wird deutlich, wie intensiv der Klub beobachtet und beeinflusst wurde“, sagt Anne Drescher, die Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen in Mecklenburg-Vorpommern. „Es war ein dichtes Netz.“ Schäfer sei kein Einzelfall gewesen. Aber ein Fall mit bitterem Ausgang.

Die Stasi hatte eigens einen Maßnahmenplan gegen ihn erarbeitet. Darin ging es unter anderem um den Einsatz von Inoffiziellen Mitarbeitern bei Starts „im nichtsozialistischen Ausland“. Sie sollten Hinweise über Schäfers Verhalten im Vorfeld der WM liefern. Zum Beispiel auf der Reise 1982 in die Vereinigten Staaten und nach Kanada, bei der auch IMs aus Schwerin dabei waren. Darunter der IMS (Inoffizieller Mitarbeiter Sicherheit) mit dem Decknamen „Anton“. Und IMS „Frank“.

IMS „Frank“ ist von der Staatssicherheit in der Decknamenkartei F22 erfasst worden. Registriernummer: II 278/70. Dieselbe Nummer befindet sich in der Klarnamenkartei F16. Der Klarname lautet: Fritz Sdunek. „Die eigentliche IM-Akte zu ,Frank‘ existiert nicht mehr“, sagt die Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen. „Die Berichte aber lassen sich relativ eindeutig zuordnen. Wir können davon ausgehen, dass Fritz Sdunek als dieser IMS berichtet hat.“

Unregelmäßigkeiten in Sduneks Autobiographie

IMS „Frank“ wurde bereits am 3. Juni 1970 als Vorlauf-IM aufgenommen und schon am 30. Juni 1970 zum IMS umregistriert. Sdunek hat hingegen in seiner Autobiografie behauptet, dass er seinen ersten bewussten Kontakt mit der Stasi 1979 hatte, als er Spitzentrainer bei den Senioren geworden war. IMS „Frank“ traf sich regelmäßig mit hauptamtlichen Mitarbeitern der Staatssicherheit. In den Akten über Traktor Schwerin sind mindestens 15 Fälle verzeichnet, in denen er Informationen geliefert hat. Über Boxer, einen Trainer, einen Arzt. Die von Stasi-Offizieren verfassten Protokolle liegen unserer Redaktion vor. Handschriftliche Aufzeichnungen von IMS „Frank“ gibt es nicht.

IMS „Frank“ berichtete über Trainingsleistungen, beurteilte die Einstellung zur DDR und zum Sozialismus, schätzte Karrierechancen ein. „Er wurde bewusst eingesetzt“, so Anne Drescher. „Auch um Privates zu erfahren.“ In den Akten reihen sich heikle an banale Auskünfte. So teilte er über einen Boxer mit, dass dieser mit einem Mädchen Schluss machen wolle, aber eine lose Verbindung halten möchte, „da sie in einem Bereich eingesetzt wird, der mit Autoersatzteilen handelt“. Dieser Boxer habe verwandtschaftliche Kontakte ins westliche Ausland. „Er muß eine Oma in WD (Westdeutschland, die Red.) haben, die des Öfteren zu Besuch kommt.“ Ein Junge aus dem Klub habe hingegen schlicht „kein ordentliches Elternhaus.“ Und die Mutter eines Schülers erhalte als Friseurin angeblich Trinkgelder von „BRD-Personen“. „Dafür kauft sie dann Kosmetik im Intershop ein.“

Fritz Sduneks Taktik sei es gewesen, heißt es in seiner Autobiographie, „mit vielen Worten nichts zu sagen und den von ihm überwachten Sportlern so wenig wie möglich zu schaden“. Über Dirk Schäfer sagte IMS „Frank“, dass er mal ein ganz Großer werden könnte. Er berichtete der Stasi aber auch über Probleme in der Malerlehre, Konflikte mit dem Vater, über eine Schlägerei in der Stadt. Und: Schäfer habe „sehr engen Kontakt“ zu einem Arzt aus Schwerin.

Fritz Sduneks Registrierung beim Ministerium für Staatssicherheit
Fritz Sduneks Registrierung beim Ministerium für Staatssicherheit

Dieser Arzt war ebenfalls unter Beobachtung der Staatssicherheit. Bei Treffen der beiden wurde laut Stasi-Akten auch über Fragen der Freiheit und der Menschenrechte in der DDR sowie über die Rolle der Kirche diskutiert. „Wir haben Tee getrunken und über den Sinn des Lebens gesprochen“, erinnert sich Schäfer. „Der Doktor sagte: ,Mensch werden, das ist der Sinn.‘ Das war doch nichts Falsches.“ „Frank“ gab an, dass der junge Boxer „idiotisch und überspitzt denken“ würde.

IMS „Frank“ sollte noch 1989 für die Staatssicherheit aufklären, was ein ehemaliger Boxer vorhatte, der nach einer genehmigten Reise nach Westdeutschland nicht in die DDR zurückgekehrt war. Dieser ehemalige Boxer war Richard Nowakowski, zweimaliger Europameister und Medaillengewinner bei Olympia 1976 in Montreal (Silber) und 1980 in Moskau (Bronze). Auf der Länderkampfreise 1982 hatte er im Ring gestanden und als Mannschaftskapitän drei Siege im Leichtgewicht geholt.

Extra für Olympia ausgebildete Spitzel

Nowakowski war aber auch: IMS „Anton“. Seine Akte wurde am 30. November 1973 von der Staatssicherheit angelegt. Registriernummer 681/73. Das eigentliche Werbungsgespräch fand später statt: am 18. April 1975 in der konspirativen Wohnung „Einheit“. Zuvor hatte das Ministerium für Staatssicherheit, Hauptabteilung XX, empfohlen, aus Gründen der Sicherheit keine schriftliche Verpflichtung von dem Kandidaten zu verlangen. „IMS ,Anton‘ kann anhand der vorhandenen IM-Akte eindeutig zugeordnet werden“, sagt Anne Drescher, die Landesbeauftragte. „Es ist Richard Nowakowski.“ Nowakowski selbst wollte sich gegenüber unserer Redaktion nicht äußern.

IMS „Anton“ wurde gezielt für die Olympischen Spiele 1976 aufgebaut. Er sollte die Aufklärung und Kontrolle von Boxern aus dem Kaderkreis absichern. Seine Hauptaufgabe in Montreal bestand darin, „mit einer hohen Wachsamkeit alle Vorgänge in der Delegation zu registrieren“. Für seinen Einsatz wurde ihm am 10. Februar 1977 bei einem Treffen im konspirativen Objekt „Student“ in Schwerin eine „Praktica PLC 2 mit Zusatzconverter“ geschenkt. Mit der Kamera wollte man ihm für die „zuverlässige Erfüllung des tschekistischen Auftrages“ danken. IMS „Anton“ war auch danach im Einsatz. 1978 stellte die Staatssicherheit für ihn einen achtseitigen Plan auf. Er sollte Funktionäre, Trainer und Boxer von Traktor Schwerin ausspionieren. Und er sollte einen im Klub bekannten Autogrammsammler bespitzeln, ihm Bildmaterial und Unterschriften anbieten und „über diese Wege ein enges Vertrauensverhältnis schaffen, wenn möglich, sogar gegenseitige Besuche organisieren“.

Im Maßnahmenplan gegen Dirk Schäfer taucht IMS „Anton“ dreimal auf. Unter Punkt 3, der Kontrolle des Freizeitbereichs. Ziel war unter anderem der „Abbau negativer Kontakte“. Unter Punkt 5, der Kontrolle im Boxbereich. Und unter Punkt 7, der Kontrolle bei Starts „im nichtsozialistischen Ausland“.

Für die Lösung der „anstehenden operativen Aufgabenstellungen“ auf der Reise vom 8. bis zum 20. Februar 1982 in die Vereinigten Staaten und nach Kanada haben sowohl IMS „Anton“ als auch IMS „Frank“ im Vorfeld 150 Westmark erhalten. Bei den IMs, so heißt es im Einsatzkonzept der Stasi, handele es sich um zuverlässige und ehrliche Inoffizielle Mitarbeiter. „Jeder IM im Fall Schäfer hat einzelne Mosaiksteinchen geliefert, aus denen die Staatssicherheit das Bild zusammensetzen konnte“, sagt Anne Drescher.

Nur wenige Monate nach der Länderkampftour wurde Schäfer als „Erziehungsmaßnahme“ vom ersten in den dritten Kaderkreis versetzt und für internationale Einsätze gesperrt. Er habe ohne Absprache die Gewichtsklasse wechseln wollen. Vor allem aber sei er mit den falschen Leuten unterwegs und habe seine Lehre vernachlässigt, heißt es im Bericht der Stasi zur Operativen Personenkontrolle „Boxer“. Wiederholt hätte er zudem an „Jazzkonzerten und Gesprächsrunden in kirchlichen Einrichtungen“ teilgenommen. Als sich Schäfer schließlich weigerte, trotz Verletzung als Sparringspartner mit ins Trainingslager der DDR-Auswahl zu fahren, wurde er komplett fallengelassen.

Aufhören oder spuren

Der Maßnahmenplan gegen ihn hatte zwei Varianten vorgesehen. Entweder sollte er aufhören beim SC Traktor. Oder als Reisekader für die WM 1982 bestätigt werden. „Von den Varianten ist tatsächlich eine durchgespielt worden“, sagt Anne Drescher. „Und zwar die erste.“ Schäfer wurde rausgeschmissen, durfte nicht mal abtrainieren, stand eines Tages wieder bei den Eltern vor der Tür. Er zog sich zurück, wusste nicht, was er machen sollte. Sein Vater besorgte ihm einen Job. Hauptsache, ein bisschen Struktur im Leben.

1983 ging Dirk Schäfer zur Armee und begann später zu studieren. Geboxt hat er weiter. Irgendwie. Er trainierte allein, wurde Studentenmeister, qualifizierte sich für die DDR-Meisterschaft. „Ich hatte das ungute Gefühl, dass jemand anderes über mich bestimmte. Ich wollte aber selber entscheiden, wann Schluss ist.“ Schluss war mit der Bronzemedaille. Danach hatte er nie wieder etwas zu tun mit dem Boxen.

Dirk Schäfer ist heute 55, er lebt seit vielen Jahren als Straßenmusiker in Schwerin. Rock, Blues, er kennt 50 Dylan-Songs. Im Sommer will er wieder mit seinem Wohnmobil durchs Land fahren. Auf der Tür des Wagens steht: „Siegen kann jeder.“

Von: Matthias Hufmann

Aus: FAZ vom 25. Mai 2017